Franziskus von Assisi
Nicht bullierte Regel
Im Jahre 1209 bzw. 1210 legte Franziskus dem Papst Innozenz III. die erste Form seiner Ordensregel vor. Ihre Textgestalt ist heute nicht mehr bekannt. Mit dem Wachsen der Brüderschaft ergab sich die Notwendigkeit, die Entwicklung zu berücksichtigen durch Ergänzungen, Verbesserungen und Überarbeitungen des Regeltextes. Das geschah auf den Generalkapiteln. Das Generalkapitel des Jahres 1221 erstellte die Redaktion des uns bekannten Textes der nicht bullierten Regel.
Prolog Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Dies ist das Leben des Evangeliums Jesu Christi, welches Bruder Franziskus vom Herrn Papst Innozenz erbeten hat, daß es ihm gewährt und bestätigt würde. Und dieser gewährte und bestätigte es ihm und seinen Brüdern, den damaligen und den zukünftigen. Bruder Franziskus und wer immer das Haupt dieses Ordens sein wird, soll Gehorsam und Ehrerbietung dem Herrn Papst Innozenz und seinen Nachfolgern versprechen. Und alle anderen Brüder sollen verpflichtet sein, dem Bruder Franziskus und dessen Nachfolgern zu gehorchen.
Regel und Leben dieser Brüder ist dieses, nämlich zu leben in Gehorsam, in Keuschheit und ohne Eigentum und unseres Herrn Jesu Christi Lehre und Fußspuren zu folgen, der sagt:
Wenn jemand auf Gottes Eingebung hin dieses Leben annehmen will und zu unseren Brüdern kommt, werde er liebevoll von ihnen aufgenommen.
Wenn er nun entschlossen ist, unser Leben anzunehmen, sollen die Brüder sich sehr hüten, sich in seine zeitlichen Angelegenheiten einzumischen-, vielmehr sollen sie ihn bei ihrem Minister vorstellen, so schnell sie können.
Der Herr sagt: "Diese Art böser Geister kann nur durch Fasten und Gebet ausgetrieben werden" (vgl. Mk 9,28). Und wieder-um: "Wenn ihr fastet, dann werdet nicht wie traurige Heuchler" (Mt 6,16). Daher sollen alle Brüder, seien sie Kleriker oder Laien, das Göttliche Offizium, die Lobpreisungen und Gebete, verrichten, wie sie es schuldig sind zu tun.
Im Namen des Herrn!
5. Kapitel Darum behütet eure und der Brüder Seelen-, denn "furchtbar ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen" (Hebr 10,31). Wenn aber ein Minister einem Bruder etwas gegen unser Leben oder gegen dessen Seele befehlen sollte, darin ist der Bruder nicht verpflichtet, ihm zu gehorchen. Denn das ist nicht Gehorsam, wenn dabei ein Vergehen oder eine Sünde begangen wird. Jedoch sollen alle Brüder, die den Ministern und Dienern unterstellt sind, mit verständiger Sorgfalt auf das achten, was die Minister und Diener tun. Und wenn sie sehen, daß einer von ihnen fleischlich wandelt und nicht geistlich, wie es der Rechtheit unseres Lebens entspricht, und er sich nach der dritten Ermahnung nicht bessert, dann sollen sie, ohne sich durch irgendeinen Widerspruch abbringen zu lassen, auf dem Pfingstkapitel dem Minister und Diener der gesamten Brüderschaft Bericht erstatten. Wenn sich aber irgendwo unter den Brüdern ein Bruder fände, der fleischlich und nicht geistlich wandeln wollte, dann sollen die Brüder, mit denen er zusammen ist, ihn in Demut und Sorgfalt ermahnen, ihn aufmerksam machen und zur Rede stellen.
Wenn Brüder, an welchen Orten auch immer sie sind, unser Leben nicht beobachten können, sollen sie, so schnell sie können, zu ihrem Minister Zuflucht nehmen und ihm dies mitteilen.Der Minister aber bemühe sich, so für sie zu sorgen, wie er selbst wünschte, daß ihm geschähe, wenn er in einer ganz ähnlichen Lage wäre (vgl. Mt 7,12). Und keiner soll "Prior" genannt werden, sondern alle sollen schlechthin "Mindere Brüder" heißen. Und einer wasche des anderen Füße (vgl. Joh 13,14).
Keiner der Brüder, an welchen Orten auch immer sie bei anderen verweilen, um zu dienen oder zu arbeiten, soll Kämmerer oder, Kanzler sein, noch Oberhaupt eine leitende Stelle in den Häusern innehaben, in denen sie dienen. Auch sollen sie kein Amt Übernehmen, das Ärgernis hervorrufen oder "ihrer Seele Schaden zufügen würde" (vgl. Mk 8,36). Sie sollen vielmehr die Minderen und allen untergeben sein, die im gleichen Hause sind. Und die Brüder, die arbeiten können, sollen arbeiten und das Handwerk ausüben, das sie verstehen, wenn es nicht gegen das Heil der Seele ist und ehrbar ausgeübt werden kann. Denn der Prophet sagt: "Den Lohn der Mühen deiner Hände wirst du genießen; glücklich bist du, und es wird dir wohl ergehen" (Ps 127,2). Und der Apostel: "Wer nicht arbeiten will, soll nicht essen" (vgl. 2 Thess 3, 10). Und: "Jeder soll" bei dem Handwerk und Dienst bleiben, "zu dem er berufen wurde" (vgl. 1 Kor 7,24). Und für die Arbeit können sie alles Notwendige annehmen außer Geld. Und wenn es notwendig würde, mögen sie um Almosen gehen wie andere Arme. Und es soll ihnen erlaubt sein, Werkzeug und Gerät zu haben, das für ihr Handwerk geeignet ist. Alle Brüder "sollen sich bemühen, mit Eifer gute Werke zu verrichten", denn es steht geschrieben: "Sei immer dabei, etwas Gutes zu tun, damit der Teufel dich beschäftigt finde". Und ebenso: "Müßiggang ist der Seele Feind". Daher müssen die Knechte Gottes immer dem Gebete oder irgendeiner guten Tätigkeit obliegen.
Der Herr befiehlt im Evangelium: "Gebt acht, hütet euch vor jeglicher Bosheit und Habsucht" (vgl. Lk 12,15); und: "Seid auf der Hut vor dem geschäftigen Treiben dieser Welt und den Sorgen dieses Lebens" (vgl. Lk 21,34). Darum soll kein Bruder, wo immer er auch sein mag und wohin immer er geht, Geld oder Münzen auch nur irgendwie aufheben oder annehmen oder annehmen lassen, weder für Kleidung noch für Bücher noch als Lohn für eine Arbeit, nein, unter keinem Vorwand, es sei denn wegen der offenkundigen Notlage kranker Brüder; denn Geld oder Münzen dürfen für uns keinen größere Nutzen haben, und wir dürfen sie nicht höher schätzen als Steine. Und jene will der Teufel verblenden, die nach ihm dem Geld verlangen oder es für wertvoller als Steine halten. Hüten wir uns also, die alles verlassen haben (vgl. Mt 19,27), daß wir nicht wegen etwas so Geringem das Himmelreich verlieren. Und wenn wir irgendwo Münzen finden sollten, wollen wir uns um sie nicht anders kümmern als um den Staub, den wir mit Füßen treten, denn "es ist Eitelkeit der Eitelkeiten, und alles ist eitel" (Pred 1,2). Und sollte es doch vorkommen - was ferne sei -, daß ein Bruder Geld oder Münzen sammelt oder hat ausgenommen allein die erwähnte Notlage der Kranken -, dann wollen wir Brüder alle ihn für einen falschen Bruder und Abtrünnigen und Dieb und Räuber halten und für den, der den Geldbeutel hat (Vgl. Joh 12,6), es sei denn, daß er aufrichtig Buße tue. Und unter keinen Umständen dürfen die Brüder Geld als Almosen und Münzen für irgendwelche Häuser oder Niederlassungen annehmen oder annehmen lassen oder sammeln oder sammeln lassen. Sie sollen auch niemand begleiten, der für solche Niederlassungen Geld oder Münzen sammelt.
Alle Brüder sollen bestrebt sein, der Demut und Armut unseres Herrn Jesus Christus nachzufolgen. Und sie sollen daran denken, daß mir, wie der Apostel sagt, von der ganzen Welt nichts anderes nötig haben als "Nahrung und Meidung; damit sind wir zufrieden" (vgl. 1 Tim 6,8). Und sie müssen sich freuen, wenn sie mit gewöhnlichen und verachteten Leuten verkehren, mit Armen und Schwachen und Aussätzigen und Bettlern am Wege. Und wenn es notwendig wäre, mögen sie um Almosen geben. Und sie dürfen sich nicht schämen und sollen mehr daran denken, daß unser Herr Jesus "Christus, der Sohn des lebendigen Gottes" (Joh 11,27), des Allmächtigen, "sein Antlitz wie den härtesten Felsen gemacht hat" (Jes 50,7) und sich nicht geschämt hat. Und er ist arm gewesen und ein Fremdling und hat von Almosen gelebt, er selbst und die selige Jungfrau und seine Jünger. Und wenn ihnen die Menschen Schmach antun würden und ihnen kein Almosen geben wollten, dann sollen sie Gott dafür danken; denn für die Schmach werden sie große Ehre vor dem Richterstuhl unseres Herrn Jesus Christus erhalten. Und sie sollen wissen, daß die Schmach nicht denen angerechnet wird, die sie ertragen, sondern denen, die sie zufügen. Und das Almosen ist das Erbe und der gerechte Anteil, der den Armen zusteht, den unser Herr Jesus Christus uns erworben hat. Und die Brüder, die sich abmühen, es zu sammeln, werden großen Lohn erhalten und lassen die Spender gewinnen und erwerben. Denn alles, was die Menschen in der Welt zurücklassen werden, wird vergehen, aber für die Wohltätigkeit und die Almosen, die sie gegeben haben, werden sie Lohn vom Herrn erhalten. Und vertrauensvoll soll einer dem anderen seine Not offenbaren, damit er ihm das Notwendige ausfindig mache und verschaffe. Und jeder liebe und ernähre seinen Bruder, wie eine Mutter ihren Sohn liebt und ernährt (vgl. 1 Thess 2,7); dabei wird Gott ihm Gnade schenken. Und "wer nicht ißt, soll den, der ißt, nicht richten" (Röm 14, 3 b). Und wenn irgendeinmal Not über sie kommt, soll es allen Brüdern, wo auch immer sie sein mögen, erlaubt sein, sich aller Speisen zu bedienen, die Menschen essen können, wie der Herr von David sagt, der "die Schaubrote aß" (vgl. Mt 12,4), "welche niemand essen durfte als nur die Priester" (Mk 2,26). Und sie sollen beherzigen, was der Herr sagt: "Achtet aber auf euch selbst, daß eure Herzen nicht etwa durch Völlerei und Trunkenheit und Sorgen dieses Lebens beschwert werden und jener Tag auf euch unversehens hereinbreche; denn wie eine Schlinge wird er über alle kommen, die den Erdkreis bewohnen" (vgl. Lk 21,34-35). Ebenso dürfen auch alle Brüder mit dem für sie Notwendigen in Zeit offenkundiger Not verfahren, gleichwie ihnen der Herr die Gnade schenkt; denn Not hat kein Gebot.
Wenn einer der Brüder schwer krank werden sollte, mag er sein wo immer, dann sollen die anderen Brüder ihn nicht verlassen, ohne einen oder, wenn notwendig, mehrere Brüder bestimmt zu haben, die ihm dienen, wie "sie selber bedient werden wollten" (vgl. Mt 7,12). Im äußersten Notfall jedoch können sie ihn einer Person anvertrauen, die sich seiner Krankheit annehmen soll. Und ich bitte den kranken Bruder, er möge so zu sein verlangen, wie der Herr ihn will, sei es gesund, sei es krank. Denn, alle, die Gott "zum ewigen Leben vorherbestimmt hat" (vgl. Apg 13,48), "die unterweist er durch die Stacheln von Schlägen und Krankheiten und durch den Geist der Reue", wie der Herr sagt: "Die ich liebe, die weise ich zurecht und züchtige sie" (Offb 3,19). Und wenn einer verwirrt oder zornig wird, sei es gegen Gott, sei es gegen die Brüder, oder wenn er vielleicht ungestüm Arzneien fordern wird, da er zu sehr sein Fleisch zu befreien begehrt, das bald sterben wird und ein Feind der Seele ist, dann kommt ihm das vom Bösen, und er ist fleischlich und scheint nicht zu den Brüdern zu gehören, weil er den Leib mehr liebt als die Seele.
Und alle Brüder sollen sich hüten, zu verleumden und sich in Wortgezänk einzulassen (vgl. 2 Tim 2,14); vielmehr sollen sie bemüht sein, Schweigen zu bewahren, wann immer ihnen Gott die Gnade geben wird. Auch sollen sie nicht untereinander oder mit anderen herumstreiten, sondern bemüht sein, demütig zu antworten und zu sagen: "Ich bin ein unnützer Knecht" (vgl. Lk 17, 10). Und sie sollen nicht zürnen, "weil jeder, der seinem Bruder zürnt, dem Gerichte verfallen sein wird. Wer zu seinem Bruder sagt: Du Taugenichts', wird dem Rate verfallen sein. Wer zu ihm sagt: Du Narr', wird der Feuerhölle verfallen sein" (Mt 5,22). Und sie sollen sich gegenseitig lieben, wie der Herr sagt: " Das ist mein Gebot, daß ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe" (Job 15,12). Und sie sollen die Liebe, die sie zueinander haben, aus den Werken zeigen (vgl. Jak 2,18), wie der Apostel sagt: "Laßt uns nicht mit dem Wort und der Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit" (1 Job 3,18). Und "sie sollen niemanden lästern" (vgl. Tit 3,2). Sie sollen nicht murren, andere nicht verleumden, denn es steht geschrieben: "Ohrenbläser und Verleumder sind Gott verhaßt" (vgl. Röm 1,29). Und sie seien bescheiden "und sollen allen Menschen alle Sanftmut erweisen" (vgl. Tit 3,2). Sie sollen nicht richten, nicht verdammen. Und wie der Herr sagt, sollen sie die geringsten Sünden anderer nicht betrachten (vgl. Mt 7,3; Lk 6,41); vielmehr sollen sie mehr die eigenen "in der Bitterkeit ihrer Seele überdenken" (Jes 38,15). Und sie sollen sich bemühen, "durch die enge Pforte einzutreten" (Lk 13,24), denn der Herr sagt: "Eng ist die Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt; und nur wenige sind, die ihn finden" (Mt 7,14).
Alle Brüder, wo immer sie auch sind und wohin sie gehen, sollen sich in acht nehmen vor unlauterem Blick und Umgang mit Frauen. Und keiner soll sich allein mit ihnen beraten oder mit ihnen des Weges ziehen oder bei Tisch mit ihnen aus einer Schüssel essen. Die Priester sollen ehrbar mit ihnen sprechen, wenn sie ihnen die Buße auferlegen oder ihnen sonst einen geistlichen Rat geben. Und auf keinen Fall darf eine Frau von einem Bruder in ein Gehorsamsverhältnis aufgenommen werden, sondern nachdem ihr ein geistlicher Rat erteilt worden ist, mag sie Buße tun, wo sie will. Und wir wollen uns alle sehr in acht nehmen und alle unsere Glieder rein bewahren, denn der Herr sagt: "Wer eine Frau anschaut, um sie zu begehren, hat schon in seinem Herzen Ehebruch an ihr begangen" (Mt 5,28); und der Apostel: "Oder wißt ihr nicht, daß eure Glieder ein Tempel des Heiligen Geistes sind?" (vgl. 1 Kor 6,19). Wer daher "den Tempel Gottes entweiht, den wird Gott vernichten" (1 Kor 3,17).
Wenn ein Bruder auf Anreiz des Teufels Unzucht treiben sollte, dann soll man ihm den Habit ausziehen, den er durch seine abscheuliche Freveltat verloren hat, und er soll den Habit völlig ablegen und vollends aus unserem Orden ausgestoßen werden. Und danach mag er Buße tun für die Sünden (vgl. 1 Kor 5,4-5).
Wenn die Brüder durch die Welt ziehen, sollen sie nichts auf dem Weg mit sich führen, weder (vgl. Lk 9,3) Beutel (vgl. Lk 10,4) "noch Tasche noch Brot noch Geld (vgl. Lk 9,3) noch Stab" (vgl. Mt 10, 10). Und wenn sie irgendein Haus betreten, sollen sie zuerst sagen: "Friede diesem Hause!" (vgl. Lk 10,5). Und sie mögen in diesem Hause bleiben und essen und trinken, "was es Der ihnen gibt" (vgl. Lk 10,7). Sie sollen dem Bösen nicht widerstehen (vgl. Mt 5,39), sondern wenn sie jemand auf die eine Wange schlägt, sollen sie auch die andere hinhalten (vgl. Mt 5,39, Lk 6,29). Und "wer ihnen das Kleid wegnimmt, dem sollen sie auch das Hemd" nicht verweigern (vgl. Lk 6,29). "Jedem, der sie um etwas bittet", sollen sie geben-, "und wer das Ihrige wegnimmt", von dem sollen sie es nicht zurückfordern (vgl. Lk 6,30).
Ich gebiete allen meinen Brüdern, Klerikern wie Laien, mögen sie durch die Welt ziehen oder in Niederlassungen weilen, auf keine Weise bei sich oder bei einem anderen oder auf irgendeine andere Weise ein Tier zu halten. Es soll ihnen auch nicht gestattet sein zu reiten, wenn sie nicht durch Schwäche oder große Not dazu gezwungen sind.
Der Herr sagt: "Seht, ich sende euch wie Schafe mitten unter Wölfe. " Seid daher "klug wie Schlangen und einfältig wie Tauben" (Mt 10, 16). Daher soll jeder Bruder, der unter die Sarazenen und andere Ungläubige gehen will, mit der Erlaubnis seines Ministers und Dieners gehen. Und der Minister soll ihnen ohne Widerspruch die Erlaubnis geben, wenn er sieht, daß sie tauglich sind, geschickt zu werden; denn er wird dem Herrn Rechenschaft ablegen müssen (vgl. Lk 16,2), wenn er hierin oder in anderen Dingen unüberlegt vorgegangen ist. 17. Kapitel Kein Bruder soll predigen gegen Vorschrift und Anordnung der heiligen Kirche und nur, wenn es ihm von seinem Minister erlaubt ist. Und der Minister möge sich hüten, jemandem unüberlegt die Erlaubnis zu erteilen. Alle Brüder sollen jedoch durch die Werke predigen. Und kein Minister oder Prediger soll das Amt des Ministers der Brüder oder das Predigtamt sich aneignen, sondern zu jeder Stunde, wenn es ihm befohlen wird, soll er ohne jeden Widerspruch auf sein Amt verzichten. Daher bitte ich in der Liebe, die Gott ist (vgl. 1 Joh 4,16), alle meine Brüder, die predigen, beten, arbeiten, sowohl die Kleriker wie die Laien, daß sie danach trachten, sich in allem zu verdemütigen, sich nicht zu rühmen, weder selbstgefällig zu sein, noch innerlich sich zu erheben wegen guter Worte und Werke, überhaupt über gar nichts Gutes, das Gott bisweilen in ihnen und durch sie tut oder spricht und wirkt gemäß dem Wort des Herrn: "Doch freut euch nicht darüber, daß euch die Geister unterworfen sind" (Lk 10,20). Und wir sollen fest überzeugt sein, daß nur Laster und Sünden zu uns gehören. Und wir müssen uns mehr freuen, "wenn wir in mancherlei Versuchungen geraten" sollten (vgl. Jak 1,2) und wenn wir in dieser Welt um des ewigen Lebens willen vielerlei Ängste und Trübsale an Seele und Leib ertragen sollten.
Alljährlich kann jeder Minister mit seinen Brüdern am Feste des heiligen Erzengels Michael zusammenkommen, wo nur immer es Ihnen beliebt, um das zu behandeln, was sich auf Gott bezieht. Alle Minister nämlich, die in den Gebieten jenseits des Meeres und jenseits der Alpen sind, sollen einmal in drei Jahren und die anderen Minister einmal im Jahr zum Pfingstkapitel bei der Kirche der heiligen Maria von Portiunkula kommen, wenn es nicht vom Minister und Diener der gesamten Brüderschaft anders angeordnet würde.
Alle Brüder sollen katholisch sein, katholisch leben und reden. Wenn aber einer in Wort oder Werk vom katholischen Glauben und Leben abirren sollte und sich nicht bessern würde, soll er aus unserer Brüderschaft gänzlich ausgestoßen werden. Und alle Kleriker und alle Ordensleute sollen wir als Herren betrachten in den Dingen, die das Heil der Seele angehen und nicht von unserem Orden abweichen. Und ihrer Weihe und ihrem Amt und Dienst wollen wir im Herrn Ehrfurcht erweisen.
Und meine gebenedeiten Brüder, seien sie Kleriker oder Laien, sollen ihre Sünden Priestern unseres Ordens beichten. Und wenn sie das nicht können, mögen sie bei anderen besonnenen und katholischen Priestern beichten; dabei sollen sie fest wissen und beachten: von welchen katholischen Priestern auch immer sie Buße und Lossprechung erhalten haben, sie sind ohne Zweifel von diesen Sünden losgesprochen, wenn sie sich bemüht haben, die ihnen auferlegte Buße demütig und getreu zu verrichten. Wenn sie aber gerade keinen Priester haben können, mögen sie ihrem Bruder beichten, wie der Apostel Jakobus sagt: "Bekennt einander eure Sünden" (Jak 5,16). Doch dürfen sie deswegen nicht unterlassen, sich an einen Priester zu wenden, weil die Binde- und Lösegewalt allein den Priestern übertragen ist. Und nach solcher Reue und Beichte sollen sie den Leib und das Blut unseres Herrn Jesus Christus mit großer Demut und Verehrung empfangen, eingedenk, daß der Herr sagt: "Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben" (vgl. Joh 6,55); und: "Tut dies zu meinem Gedächtnis" (Lk 22,19).
Und diese oder eine ähnliche Mahn- und Lobrede können alle meine Brüder mit Gottes Segen bei allen Leuten halten, wann immer sie es für gut finden: Fürchtet und ehret, lobet und benedeiet, "saget Dank" (1 Thess 5,18) und betet an den Herrn, den allmächtigen Gott in der Dreifaltigkeit und Einheit, den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist, den Schöpfer aller Wesen. Tut Buße (vgl. Mt 3,2), bringt würdige Früchte der Buße (vgl. Lk 3,8), denn wir werden bald sterben. "Gebt, und es wird euch gegeben werden" (Lk 6,38). "Vergebt, und es wird euch vergeben werden" (vgl. Lk 6,37). "Und wenn ihr den Menschen ihre Sünden nicht vergebt" (Mt 6,14), wird der Herr "euch eure Sünden nicht vergeben" (Mk 11,25). Bekennt alle eure Sünden (vgl. Jak 5,16). Selig, die in Buße sterben, denn sie werden im Himmelreich sein.
Geben wir acht, wir Brüder alle, was der Herr sagt: "Liebet eure Feinde und tut denen Gutes, die euch hassen" (vgl. Mt 5,44 par.); denn unser Herr Jesus Christus, dessen Fußspuren wir folgen müssen (vgl. 1 Petr 2,21), hat seinen Verräter Freund genannt (vgl. Mt 26,50) und sich freiwillig denen überliefert, die ihn kreuzigten. Darum sind alle jene unsere Freunde, die uns ungerechterweise Drangsal und Ängste, Schmach und Unrecht, Schmerzen und Qualen, Marter und Tod antun; und diese müssen wir sehr lieben, weil wir für das, was sie uns antun, das ewige Leben erlangen. Und hassen wollen wir unseren Leib mit seinen Lastern und Sünden; denn durch ein fleischliches Leben will der Teufel uns die Liebe Jesu Christi und das ewige Leben rauben und sich selbst mit allen in die Hölle stürzen. Denn durch unsere Schuld sind wir abscheulich, erbärmlich und dem Guten zuwider, zum Bösen aber bereit und willig, weil, wie der Herr im Evangelium sagt, "aus dem Herzen hervorkommen und ausgehen: böse Gedanken, Ehebrüche, Unzucht, Mordtaten, Diebstähle, Habsucht, Bosheit, Arglist, Schamlosigkeit, Scheelsucht, falsche Zeugnisse, Gotteslästerung, Torheit" (vgl. Mk 7,21- 8 22-, Mt 15,19). "All dies Böse kommt von innen aus dem Herzen des Menschen" (vgl. Mk 7,23), "und dies ist es, was den Menschen unrein macht" (Mt 15,20).
Allmächtiger, heiligster, erhabenster, höchster Gott, heiliger und gerechter Vater (Job 17,11), Herr, König "des Himmels und der Erde" (vgl. Mt 11,25), wir sagen dir Dank um deiner selbst willen, weil du durch deinen heiligen Willen und durch deinen einzigen Sohn mit dem Heiligen Geiste alles Geistige und Körperliche geschaffen und uns, geformt "nach deinem Bild und deiner Ähnlichkeit, ins Paradies gestellt hast" (vgl. Gen 1,26. 2.15). Und durch unsere eigene Schuld sind wir gefallen. Und wir sagen dir Dank, weil du, gleichwie du uns durch deinen Sohn erschaffen hast, so durch deine heilige Liebe, "mit der du uns geliebt hast" (vgl. Job 17,26), ihn selbst als wahren Gott und wahren Menschen aus der glorreichen, allerseligsten, immerwährenden Jungfrau, der heiligen Maria, hast geboren werden lassen, und weil du durch sein Kreuz und sein Blut und seinen Tod uns, die gefangen waren, hast erlösen wollen. Und wir sagen dir Dank, weil er, dein Sohn, kommen wird in der Herrlichkeit seiner Majestät, um die Verdammten, die nicht Buße getan und dich nicht erkannt haben, ins ewige Feuer zu stürzen, und um allen, die dich erkannt und angebetet und dir in Buße gedient haben, zu sagen: "Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt das Reich in Besitz, das euch bereitet ist vom Anbeginn der Welt" (vgl. Mt 25,34). Und da wir Elenden und Sünder allesamt nicht würdig sind, dich zu nennen, so bitten wir flehentlich, unser Herr Jesus Christus, dein geliebter Sohn, "an dem du dein Wohlgefallen hast" (vgl. Mt 17,5), möge mit dem Heiligen Geiste, dem Tröster, dir für alles Dank sagen, wie es dir und ihm gefällt-, er ist es ja, der dir stets für alles zur Genüge ist, durch den du uns so viel gegeben hast. Alleluja. Und die glorreiche, allerseligste, allzeit jungfräuliche Mutter Maria, die seligen Michael, Gabriel und Raphael und alle Chöre der seligen Seraphim, Cherubim, Thronen, Herrschaften, Fürstentümer, Gewalten (vgl. Kol 1, 15), Mächte, Engel, Erzengel, den seligen Johannes den Täufer, Johannes den Evangelisten, Petrus, Paulus und die seligen Patriarchen, die Propheten, die Unschuldigen Kinder, die Apostel, Evangelisten, Jünger, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen, die seligen Elias und Henoch und alle Heiligen, die waren und sein werden und sind, bitten wir um deiner Liebe willen in Demut, daß sie so, wie es dir gefallt, für all das Dank sagen dir, dem höchsten, wahren Gott, dem ewigen und lebendigen, mit deinem vielgeliebten Sohn, unserem Herrn Jesus Christus und dem Heiligen Geiste, dem Tröster, "von Ewigkeit zu Ewigkeit" (Offb 19,3). Amen. Alleluja (Offb 19,4). Und alle, die in der heiligen, katholischen und apostolischen Kirche Gott dem Herrn dienen wollen, und alle folgenden Stände: die Priester, Diakone, Subdiakone, Akolythen, Exorzisten, Lektoren, Ostiarier und alle Kleriker, alle Ordensmänner und Ordensfrauen, alle Konversen und Kinder, die Armen und Notleidenden, die Könige und Fürsten, die Arbeiter und Bauern, die Knechte und die Herren, alle Jungfrauen, sowohl die Enthaltsamen, wie die verheirateten Frauen, die Laien, Männer und Frauen, alle Unmündigen, Heranwachsenden, Erwachsenen und Greise, Gesunde und Kranke, alle kleinen und Großen und alle Völker, Geschlechter, Stämme und Sprachen (vgl. Offb 7,9), alle Nationen und alle Menschen, wo nur immer auf Erden, die sind und sein werden, bitten wir Minderen Brüder alle, "wir unnützen Knechte" (Lk 17, 10), demütig und flehen sie an, wir möchten doch alle im wahren Glauben und in der Buße ausharrend, denn anders kann niemand gerettet werden. Laßt uns alle "aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzer Gesinnung, aus aller Kraft (vgl. Mk 12,30) und Stärke, mit ganzem Verstand (vgl. Mk 12,33), mit allen Kräften" (vgl. Lk 10,27), mit ganzer Anstrengung, mit ganzer Zuneigung, mit unserem ganzen Inneren, mit allen Wünschen und aller Willenskraft "Gott den Herrn" (Mk 12,30 par.) lieben, der uns allen den ganzen Leib, die ganze Seele und das ganze Leben geschenkt hat und schenkt, der uns erschaffen hat, erlöst hat und uns einzig durch sein Erbarmen retten wird (vgl. Tob 13,5), der uns Elenden und Armseligen, Üblen und Abscheulichen, Undankbaren und Bösen alles Gute erwiesen hat und erweist. Nichts anderes wollen wir darum ersehnen, nichts anderes wollen, nichts anderes soll uns gefallen und erfreuen als unser Schöpfer und Erlöser und Retter, der alleinige wahre Gott, der ist die Fülle des Guten, alles Gute, das gesamte Gute, das wahre und höchste Gut, der allein gut ist (vgl. Lk 18,19), gnädig, gütig, milde und freundlich, der allein heilig ist, gerecht, wahr, heilig und einfach, der allein gütig, uneigennützig, rein ist, von dem und durch den und in dem alle Vergebung, alle Gnade, alle Herrlichkeit für alle Bußetuenden und Gerechten, für alle Glückseligen, die sich im Himmel mitfreuen, herkommt. Nichts also soll hindern, nichts trennen, nichts fälschen. Überall, an jedem Orte, zu jeder Stunde und zu jeder Zeit, täglich und unablässig wollen wir alle wahrhaft und demütig an ihn glauben und an ihm im Herzen festhalten und ihn lieben, ehren, anbeten, ihm dienen, ihn loben und benedeien, verherrlichen und hoch erheben, ihn preisen und ihm Dank erweisen, dem erhabensten und höchsten ewigen Gott, der Dreifaltigkeit und Einheit, dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, dem Schöpfer von allem und dem Retter aller, die an ihn glauben und auf ihn hoffen und ihn lieben, der ohne Anfang und ohne Ende ist, unveränderlich, unsichtbar, unbeschreiblich, unaussprechlich, unbegreiflich, unerforschlich (vgl. Röm 11,33), gepriesen, lobwürdig, ruhmreich, hocherhoben (vgl. Dan 3,52), erhaben, groß, milde, liebenswert, Freude bereitend und ganz über alles zu ersehnen in Ewigkeit. Amen.
Im Namen des Herrn! Ich bitte alle Brüder, den Wortlaut und Sinn dessen, was in dieser Lebensordnung zum Heile unserer Seele geschrieben ist, zu erlernen und sich dieses häufig ins Gedächtnis zurückzurufen. Amen. |